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Eine kleine Geschichte


Die Götterschändung (von Fluse)

Bild1 Der leichte Frühlingswind zerzauste ihr Haar, als Gudrun mit ihrer kleinen Tochter Gerlind durch die noch taunassen Wiesen streifte. Sie wollte nachsehen gehen, ob an der windgeschützten Stelle hinter dem Buchenhain dieses Jahr die Walderdbeeren gut blühten und gediehen und dem Mädchen dabei die Reifungsphasen erklären. Sollten die Stauden dort gut tragen, so wußte die Kleine wenigstens den Ort, so daß Gudrun sie im Frühsommer zum Ernten schicken konnte.

In der Luft lag ein würziger Duft nach feuchter Erde, denn es hatte viel geregnet in den vergangenen Tagen. Während die Mutter geruhsam dahinwandernd den lieblichen Gesängen der Vögel lauschte, rannte Gerlind schon eifrig voraus. Plötzlich blieb sie am Hang stehen. Aus der Senke hinter dem Buchenwäldchen erklangen rauhe Stimmen und kräftige Axtschläge. Das Mädchen verbarg sich hastig hinter einem dicken Stamm und winkte der Mutter, sich zu ducken. Gebannt starrten beide nach unten.

Fremde Männer waren dabei, den heiligen Hain abzuroden! Entsetzen und Empörung erfüllten Mutter und Tochter gleichermaßen. Leise zogen sie sich zurück und schlichen davon, bis sie außer Hörweite waren. Dann begannen sie zu rennen und hielten nicht inne, ehe sie das Gatter zur Dorfeinfriedung erreicht hatten. Erregt berichteten die Frau und das Kind dem Dorfwächter von der Freveltat, die sie beobachtet hatten.



Bild2 Der brachte den Fall sogleich vor Häuptling Gerstein, der dem Dorf seit Jahren als ein friedliebender und auf das Gemeinwohl bedachter Anführer vorstand. Gerstein bezwang seine Empörung und bedachte ruhig bei sich, daß man vorerst nichts über diese Fremden wisse.

"Vielleicht", so überlegte er, "sind diese Fremden in Unkenntnis über die hiesigen Sitten und Gebräuche. Wenn wir sie informieren, so sind sie möglicherweise bereit, die Untat mit einem göttergefälligen Opfer zu sühnen und so das Unheil von sich abzuwenden."

Deshalb beschloss er, eine Delegation nach dem Lager der Eindringlinge zu senden. Gudrun und die kleine Gerlind sollten auch mit kommen, da sie die Untat beobachtet hatten den Fall somit bezeugen konnten. Gerstein wählte Eirik, den Händler, für diese Aufgabe, da selbiger schon viele Reisen in entlegene Gegenden unternommen und dabei schon so manchen Fremden getroffen hatte. Er mochte vielleicht in der Lage sein, sich in der Sprache der Eindringlinge verständlich zu machen.

Zunächst führten die beiden Zeuginnen Eirik an den Ort des Geschehens. Da dieser auch ein leidlich guter Spurenleser war, fiel es ihm nicht allzu schwer, den Weg der Täter ausfindig zu machen, zumal diese schwer beladen waren mit gefällten Stämmen.

Der Weg führte durch die Senke hindurch und um den Götterfelsen herum. Dort wichen die Hänge zu beiden Seiten und gaben den Blick in ein Tal frei. Von oben betrachtete das Grüppchen das unglaubliche Bild: da hatten doch tatsächlich welche innerhalb kürzester Zeit einen großen Wall geschaufelt, den sie mit den Stämmen als Palisadenzäune befestigt hatten. Innerhalb der Umzäunung waren sie gerade dabei, große und prächtig anzuschauende Zelte aufzustellen. So etwas hatten die drei noch nie gesehen.



Bild3 Verzagt machten sie sich an den Abstieg. Es dauerte nicht lange, da standen sie vor dem Palisadenzaun, wo eine Wache sie anhielt und ihnen ruppig etwas in einer unverständlichen Sprache zurief. Eingeschüchtert hielten sich Gudrun und Gerlind im Hintergrund. Eirik dagegen versuchte, sich mit Händen und Füßen verständlich zu machen. Nach einer Weile rief der Wachtposten einen anderen Soldaten herbei, der nach kurzem Wortwechsel eilig in einem der großen Zelte verschwand. Minuten später erschien er mit zwei weiteren Soldaten wieder vor dem Zelteingang und kam herübermarschiert.

Er winkte den Dörflern, ihm zu folgen. Die beiden anderen eskortierten das Grüppchen. Sie wurden zu einem vornehmen Mann gebracht, der in teure Gewänder gekleidet auf einem Stuhl saß. Eirik grüßte den Herrn mit einem Nicken und kam gleich zur Sache. Der andere verstand ihn erst nicht. Eirik probierte es auf diese und jene Weise, sein Anliegen deutlich zu machen. Nach einigen Versuchen winkte der Herr einem seiner Soldaten und richtete einige Worte an ihn. Dieser verschwand und erschien kurz darauf mit einem anderen Soldaten, der einige Worte in Teutonisch verstand. Es dauerte trotzdem noch eine ganze Weile, bis der vornehme Herr begriff, was der Barbar von ihm wollte. Dann nahmen seine Züge ein verstehendes Lächeln an, bis er sich schließlich vor Lachen auf die Stuhllehne stützen mußte.

Eirik begriff nicht, was daran so komisch sein sollte. Der römische Herr jedoch, als er sich beruhigt hatte, klärte ihn in kurzen, harten Worten auf, die so einfach gehalten waren, daß sogar Eirik sie verstand, noch ehe der Soldat sie zu Ende übersetzt hatte.

"Wir betrachten dieses Land und alles was darauf wächst als unser Eigentum. Von Euch und Eurem Dorf verlangen wir eine Entschädigung dafür, daß ihr hier Eure Felder bebauen dürft und dafür, daß wir Euch in Frieden ziehen lassen. Bringt den Tribut nächste Woche um diese Zeit hier her. Richte das deinem Barbarenhäuptling aus."

Der Römer lachte erneut und gab seinen Soldaten einen Wink. Diese zeigten mit ihren Spießen unmißverständlich in Richtung Ausgang. Noch ehe sich die drei versahen, bekamen sie einen Stoß in den Rücken, so daß sie durch das Tor stolperten, welches krachend hinter ihnen zufiel.

Zurück im Dorf berichteten sie von den Geschehnissen. Die Palette der Reaktionen der anderen Dorfbewohner reichte von fassungslosem Entsetzen bis hin zu unverhüllter Wut.

"Wir haben schon viele Geschichten gehört, was mit anderen Dörfern passiert ist, die sich gegen die Besatzer auflehnten!" äußerten die Verzagten mutlos.

"Wir können uns doch solch eine schmachvolle Behandlung nicht bieten lassen! Wo bleibt unsere Ehre? Wo bleibt unser Stolz?" rasten die Zornigen.

Bild4 "Woher sollen wir denn überhaupt Waren nehmen, die als Tribut taugen? Die Ernte im letzten Jahr war nicht sehr gut, und jetzt im Frühjahr ist noch kaum etwas gewachsen!" fragten sich ratlos die Realistischen.

Einige begannen, in ihrer Umgebung nach Schätzen zu suchen, die sie den Römern anbieten konnten. Gudrun beispielsweise suchte an der geheimen Stelle am großen Gebirgsfluß nach Bernstein. Doch die Ausbeute war mager. Schon im vergangenen Frühjahr hatte sie die meisten eingesammelt. Und die waren längst in Handelsgüter wie Salz und Gewürze und andere Waren eingetauscht.

Andere versuchten, im Gebirge zu jagen. Doch die Tiere waren nach dem langen und harten Winter noch sehr mager. Auch die Pelze waren ohne großen Wert, da sich die Tiere gerade mitten im Fellwechsel befanden und somit ziemlich struppig aussahen.

Bild5 Da war guter Rat teuer. Doch die Schmähung saß so tief, daß sich schließlich diejenigen durchsetzen konnten, welche auf Rache sannen und die Schande nicht ungesühnt hinnehmen wollten. So gab Gerstein, der Friedliche, schließlich doch nach.

Gegen die mächtigen Feinde fühlten sich die Dorfbewohner allerdings schwach und unterlegen. Deshalb entwickelten sie einen Plan, wie sie mangelnde Stärke durch List wettmachen könnten. Man wollte sich willfährig stellen und auf diese Weise die Schwachstelle des Feindes herausfinden. Dort würde man dann ansetzen können.

Ohne die Hilfe der Götter würde es jedoch nicht gehen. Würde Wotan, der listige Kämpfer, ihnen gegen den starken Feind beistehen? So bereitete man sich am Tag vor Ablauf der Frist auf ein großes Opferfest vor. Dies war sehr schwierig zu bewerkstelligen im Frühjahr, denn man konnte dem Gott ja nicht das magerste Stück Vieh opfern, wo man doch so sehr auf seine Gunst angewiesen war. Die Auswahl war indes nicht allzu groß, und so entschied man sich für den feisten Mastbullen, der eigentlich erst zum Fest der Ostera geschlachtet werden sollte.

Bild6 Gerade hatte man das Tier vorbereitet - das Opferfeuer brannte noch nicht einmal - da flogen zwei Raben herbei und ließen sich in der Nähe nieder. Gerstein, der noch immer an der Richtigkeit ihres Planes zweifelte, bemerkte sie als erster.

"Seht, da sind Hugin und Munin, Wotans Begleiter!" rief er erleichtert aus. "Der Göttervater wird uns erhören!"

Nun kannte der Eifer der Menschen keine Grenzen mehr. Sie zündeten ein großes Feuer an und tanzten und sangen so laut, wie sie nur konnten, Wotan zur Ehre. Sie riefen und flehten ihn inbrüstig um seinen Beistand an. Als das Opferfeuer niedergebrannt war und es bereits auf Mitternacht zuging, flogen die beiden Vögel davon. Froh gingen die Menschen nach Hause, um die letzten Vorbereitungen vor dem großen Tag zu treffen und auch noch ein wenig zu schlafen.

Bild7 Am nächsten Morgen wurde ein letztes Mal der Plan durchgesprochen. Man wollte zu den Römern gehen, sich demütig stellen und um Gnade bitten. Man wollte die Probleme des Dorfes nach dem langen und äußerst harten Winter darstellen und abwarten, wie der Römer reagierte.

Sollte er sich unerbittlich zeigen, so sollte eine erneute Frist bis zum nächsten Tag ausgehandelt werden, während sich einer im Lager verbergen würde. Des nachts konnte der dann die Tore öffnen, und ehe die Schlaftrunkenen Römer zu den Waffen greifen konnten, hätte man sie schon besiegt.

Gegen Nachmittag machte sich Häuptling Gerstein auf den Weg. Je später man ankäme, desto besser, dachte er sich. Denn je kürzer die Zeitspanne zwischen ihrem Besuch und der Dämmerung, desto besser die Chancen, daß Thorstein nicht entdeckt würde, der dazu bestimmt worden war, die Tore zu öffnen. Der Häuptling hatte sich in seine besten Gewänder gekleidet. Auch den Großteil seiner Krieger nahm er mit sich.

Doch als die ganze Prozession vor den Mauern des römischen Stützpunktes ankamen, mußten sie eine herbe Überraschung erleben.

"Ihr seid zu spät", wurde ihnen mitgeteilt. "Die Tributzahlung sollte zur gleichen Zeit erfolgen wie Euer Besuch letzte Woche. Der Kommandant hat soeben seine Soldaten auf den Weg in Euer Dorf geschickt."

Bild8 Währenddessen sammelten ein paar ausgewählte Männer im Dorf die Frauen und Kinder sowie die alten Männer, die zu schwach zum Kämpfen waren, um sich. Sie hatten den Auftrag, die ganze Dorfgemeinschaft zu räumen und sich mit ihren Schützlingen im eine Wegstunde entfernt liegenden großen Wald zu verstecken. So froh man auch über das göttliche Zeichen gewesen war - man vergaß die Vorsicht nicht. Irgendwie mußten die Familien geschützt werden, falls der Angriff mißlang und die Römer zur Rache schreiten würden.

Das Waldgebiet, welches ihr Ziel war, erstreckte sich über mehrere Tagesreisen. Es würde schwer sein, die kleine Gruppe in einem solch großen Gebiet zu finden. Man kannte dort eine Höhle, in der man sich einige Tage verbergen konnte. Zudem ergoß sich seit mehreren Stunden feiner Nieselregen über das Land, der ihre Spuren bald verwischen würde. Bepackt mit dem Nötigsten für mehrere Tage - Lebensmitteln und warmen Decken - machten sie sich auf den Weg.

Bild9 Als Gerstein die entsetzliche Botschaft der römischen Soldaten vernommen hatte, warf er sofort alle seine Pläne über den Haufen. Die Frauen und Kinder mußten beschützt werden!

Der Rückzug der Krieger glich beinahe einer panischen Flucht. Inständig flehten sie zu sämtlichen ihnen bekannten Göttern, daß die zurückgelassenen Männer ausreichend Zeit gehabt hatten, ihrer aller Familien in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile goß es in Strömen.

Schon von weitem sahen sie Rauchschwaden in den Himmel aufsteigen, als sie sich dem Dorf näherten. Die Angst um ihre Angehörigen verlieh ihnen ungeahnte Kräfte. Fast die gesamte übrige Wegstrecke legten sie im Dauerlauf zurück. Als sie keuchend vor den Palisaden des Dorfes ankamen, erblickten sie nur noch verkohlte Überreste. Die Römer hatten das ganze Dorf geplündert und danach in Brand gesteckt. Sie waren inzwischen wieder abgezogen.

Beklommen durchsuchten die Männer das Dorf. Es gab keine Anzeichen von Leben mehr. Doch auch Leichen fand man keine. Ein kleiner Funke Hoffnung durchzog die Väter, Brüder, Ehemänner und Söhne der Geflohenen. Da hörten sie ein vertrautes Gackern. Eine der Gänse, die während des Überfalls in Panik davongeflattert war, kehrte an den gewohnten Ort zurück. Das übrige Vieh schienen die Invasoren davongetrieben zu haben. Doch vielleicht fand sich hier und da noch ein in der Umgebung umherirrendes Tier, das man wieder einfangen konnte.

Die Männer machten sich auf den Weg in das vereinbarte Versteck. Die Gans nahmen sie mit. Außerdem nahmen sie einen Umweg, um sicherzugehen, daß ihnen niemand folgen würde. Doch die Römer schienen längst umgekehrt zu sein.

Wie groß war doch die Freude, als man die Vermißten am vereinbarten Ort tatsächlich fand! Die wußten noch gar nichts von dem großen Unglück, welches das Dorf getroffen hatte. Wie gut, daß sie rechtzeitig aufgebrochen waren!

In den folgenden Tage lebte man verborgen im Wald. Täglich wurden Späher ausgeschickt, welche die Römer beobachten sollten.

Auch zwei entlaufene Kühe, drei Hühner und einige Schafe konnten wieder eingefangen werden, ehe sich die Wölfe an ihnen gütlich taten. Das übrige Vieh schienen die römischen Soldaten mitgenommen zu haben.

Nach Ablauf einer Woche brachen die Fremden endlich ihre Zelte ab und zogen weiter. Sie hinterließen eine große, abgerodete und zertretene Fläche.

Gerstein wartete noch zwei weitere Tage, ehe er die Rückkehr in ihr einstiges Dorf befahl. Glücklicherweise waren von den Häusern noch zwei zu retten, da sie etwas abseits gestanden und der Regen die Flammen rasch wieder gelöscht hatte. Hier fanden sie zunächst Unterschlupf.

Bild10 Schon am nächsten Tag begann man mit dem Wiederaufbau des Dorfes. Alle packten fleißig mit an, denn jedem war bewußt, was auf dem Spiel stand. Bis zum nächsten Winter mußten nicht nur die Häuser errichtet, sondern auch die Vorräte erneuert werden. Eine harte Zeit stand der Dorfgemeinschaft bevor, ehe die nächste Ernte eingebracht










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